Hamburg - Sebastian Deisler landete in der Psychiatrie, Jan Simak flüchtete
nach Hause, Sven Hannawald verkroch sich in seinem Schneckenhaus. Immer öfter
brechen Sportler unter wachsendem Druck und seelischem Stress zusammen.
Wenn der Kopf nicht mehr mitspielt, hilft kein Geld der Welt. Deshalb denken
plötzlich Fußball-Teamchef Rudi Völler, Torwart-Ass Oliver Kahn und
Bayern-Trainer Ottmar Hitzfeld, aber auch der Betreuerstab der deutschen
Skispringer laut über Mentaltrainer nach.
«Für vieles, was wir tun, liegen die Grenzen im Kopf, also im Mentalen», sagt
Psychologie-Professor Hans Eberspächer vom Sportinstitut der Universität
Heidelberg. Die Vorbehalte seien noch immer groß, aber unbegründet. Es geht
nicht um spirituelle Sitzungen bei Kerzenschein oder medial inszenierte
Märsche über Glasscherben à la Christoph Daum. Vielmehr müssten Psychologen
in den Betreuerstab integriert werden und langfristig arbeiten können an
Problemen wie Versagensangst, Burn-Out-Syndrom oder Umgang mit Verletzungen.
Eberspächer beschäftigt sich seit 30 Jahren mit der mentalen Seite im Sport.
Der 60-Jährige reiste schon 1976 als Psychologe mit der deutschen Mannschaft
zu den Olympischen Spielen nach Montréal und betreute über die Jahre die
Nationalmannschaften im Rudern, Judo, Bogenschießen, Radsport und Ski alpin.
Mit seiner Heidelberger Arbeitsgruppe baute er die vom Deutschen Sport-Bund
(DSB) geförderte zentrale Koordinierungsstelle Sportpsychologie auf.
«Vor allem wenn es nicht so läuft», sagt Eberspächer, «wird auch die
psychologische Komponente in Betracht gezogen.» Im bundesdeutschen Sport war
das nach den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles der Fall und auch vor
vier Jahren nach Olympia in Sydney. 13 Goldmedaillen standen zu Buche, in
Atlanta 1996 waren es noch 20, 1992 in Barcelona 33. Als Fünfte in der
Nationenwertung führten die deutschen Sommersportler die Rangliste der Plätze
4 bis 10 an.
Die Konsequenz des DSB: Im Vorfeld der Olympischen Spiele 2004 in Athen wurde
das Förderprojekt Sportpsychologie installiert. «Die Analyse von Sydney hat
gezeigt, dass wir auf dem Gebiet Nachholbedarf haben», sagt Friedrich Krüger,
Ressortleiter wissenschaftliches Verbundsystem im DSB. Finanziert wird das
Projekt über Olympia-Sonderfördermittel. In welcher Höhe, darüber schweigt
sich Krüger aus, weil er keine Begehrlichkeiten in anderen wissenschaftlichen
Bereichen wecken will. Über 20 Fachverbände bieten ihren Spitzensportlern
inzwischen psychologische Betreuung an. 18 werden über den DSB gefördert.
In Zusammenarbeit mit dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft wurde auch ein
Internetportal (www.bisp-sportpsychologie.de) installiert. Wer kompetente
Hilfe sucht, kann in der Experten- Datenbank unter 48 erfahrenen Psychologen
auswählen. Jüngster Neuzugang in der Datenbank ist Wolfgang Wölfle, der die
leidgeprüften deutschen Leichtathleten unter seine Fittiche genommen hat und
auch die Fußball-Profis von 1860 München betreut.
Im Fußball ist psychologische Betreuung noch nicht sehr verbreitet. Teamchef
Völler sieht in der Verantwortung «in erster Linie die Vereine, wo die
Spieler zu 95 Prozent sind». Bayern-Coach Hitzfeld fürchtet
Negativ-Erfahrungen: «Es gibt viele Gurus, die leben von der Publicity.» Für
Werder Bremen arbeitet im Nachwuchs-Bereich seit anderthalb Jahren Ex-Profi
Uwe Harttgen. Der Diplom- Psychologe glaubt, «dass in etwa fünf Jahren jeder
Bundesliga-Verein einen Psychologen haben wird».
In anderen Sportarten ist man schon weiter. Die Hockey-Herren wurden mit
Mentaltrainer Lothar Linz vor zwei Jahren Weltmeister. Biathlon-Weltmeister
Ricco Groß ließ sich von seinem Mentaltrainer Thomas Bascha «die Augen öffnen
bei Dingen, über die man als Insider gar nicht mehr nachdenkt». Die
Wasserballer schafften mit psychologischer Hilfe die Olympia-Qualifikation.
Handball-Bundestrainer Heiner Brand gilt als Fan der Sportpsychologie. Als
seine Mannschaft Europameister wurde, ließ er vor jedem Spiel im Besprechungszimmer
Sprüche wie diesen aufhängen: «Wenn es einen Glauben gibt, der Berge
versetzen kann, dann ist es der Glaube an die eigene Stärke.»
Fechter, Schützen, Boxer oder Basketballer arbeiten schon länger mit
Fachleuten für die Psyche. Aber auch immer mehr Einzelsportler lassen sich im
Kopf fit machen und haben Erfolg: Motorrad-Pilot Steve Jenkner gewann seinen
ersten Grand Prix, Rainer Schüttler hatte 2003 auch dank Mentaltrainer sein
bestes Tennisjahr, Eiskunstläuferin Eva-Maria Fitze bekam ihre krankhaften
Essstörungen in Griff. Selbst Skirennfahrerin Martina Ertl, ein Naturmädel
ohne Sinn für «Hokuspokus», nahm in ihrem Krisen-Winter 2001/2002 nach einem
traumatischen 64. Platz im Riesenslalom Hilfe an.
In der Formel 1 hingegen ist über die mentale Betreuung nicht viel zu
erfahren. Die Fahrer reden nicht darüber. Die persönlichen Fitnessbetreuer
gelten als Vertrauensperson. Beim sechsmaligen Weltmeister Michael Schumacher
ist es Balbir Singh, ein gebürtiger Inder. Jan Ullrich lehnte selbst in seiner
schweren Krise die ihm mehrfach angebotene psychologische Hilfe ab. Er
schwört auf seine Physiotherapeutin Birgit Krohme. Sie war im vergangenen
Jahr fast täglich an Ullrichs Seite und löste über muskuläre wohl auch
mentale Verspannungen bei dem Rad-Star. Diese Einstellung hält Eberspächer
zwar für überdenkenswert, doch er akzeptiert sie: «Es ist ja okay. Meine
Mutter hat uns früher auch immer selbst die aufgeschlagenen Knie verarztet,
und es hat funktioniert.»
(dpa)
|